Share ZU:
14 March 2017 @ Frank Stöckel

Es ist Samstagabend…

This entry is part 3 of 3 in the series Anforderung und Implementierung

…nach dem Abendessen, meine Mutter und mein Bruder sind bei uns zu Besuch. Meine Tochter ist auch Zuhause und wir haben uns entschieden, Karten zu spielen. „Schwimmen“ , so heißt unser Lieblingsspiel und unsere Gäste kennen es noch nicht, so müssen wir das Spiel nun erläutern. Der Kampf „ums Erklären dürfen“ geht los. Unser Töchterchen studiert Technische Redaktion und ich bin Berater. Das Töchterchen gewinnt und darf das Spiel erklären, während ich das Geschehen beobachte.

Inwieweit kann man das Erlernen eines Kartenspiels mit der Qualifizierung von Menschen in der Formulierung von Anforderungen in einem Entwicklungsunternehmen vergleichen und was wir hierbei voneinander lernen können, folgt jetzt:

Meine Tochter erklärt das Ziel des Kartenspiels, den Ablauf, die Regeln. Sie gibt Hinweise und Tricks. Nach kurzer Zeit merkt man, die Theorie wird zu viel, die Zuhörer können sich nicht mehr alles merken. Es folgen Fragen zu bereits erklärten Punkten und alle drängen nun darauf, mit dem Spiel endlich zu beginnen. Die Karten werden verteilt und die erste Runde wird gespielt. Im Grunde werden nun im Ablauf des Spiels die vorab ausgeführten Punkte wiederholt. Mit dem Unterschied jedoch, dass in dem Moment nur die Regeln erklärt werden, die jetzt gerade auch wirklich benötigt werden, um das Spiel fortzusetzen. Die Regeln werden in einer anderen Reihenfolge erläutert. Vielleicht werden auch nicht alle Punkte erläutert, aber die Spieler hören jetzt aufmerksamer zu. Im Laufe des Spiels wird zunehmend auch das Ziel des Spiels klarer. Die Neulinge kommen dabei ganz von selbst auf das eigentliche Ziel des Spiels. Das Ziel ergibt sich einfach aus dem Spielverlauf heraus. Es musste also nicht explizit noch einmal dargestellt werden. Im weiteren Verlauf des Spiels entstehen immer wieder Situationen, die mit weiteren, erst dann relevanten Regeln erklärt werden, welche im Spielanleitungsvortrag der Tochter anfangs nicht explizit genannt wurden. Aber irgendwie sind die Neulinge jetzt anders, irgendwie intensiver, dabei.

Hier noch einmal in Kürze, die von mir beobachteten Effekte:

  1. Der Theorievortrag allein war nicht ausreichend, den Beteiligten das Spiel so zu erklären, dass unmittelbar danach gespielt werden konnte.
  2. Im Moment des Spielens haben die Teilnehmer die Regeln des Spiels klarer und effizienter aufgenommen.
  3. Während des Theorievortrags wurde nicht gespielt.
  4. Spielen macht mehr Spaß als Vorträge anhören.
  5. Die Neulinge waren während des Vortrages ungeduldig, da Zweifel hochkamen, ob der Vortrag in dem Umfang überhaupt so notwendig war.
  6. Einige Regeln bzw. Zusammenhänge (z. B. Ziel des Spiels) mussten im direkten Spiel nicht explizit erläutert werden, da diese selbsterklärend waren.

Brauchten wir überhaupt den Theorievortrag am Anfang? Warum nicht einfach anfangen und die Regeln erst dann, wenn der Bedarf dafür da ist, erläutern. Vielleicht werden im ersten Spiel nicht alle Regeln erläutert, weil auch nicht alle möglichen Szenarien vorgekommen sind, aber mit jedem Spiel lernen wir mehr.

Während des Spiels wurde mir klar, dass ich vergleichbare Effekte prinzipiell in meinem Berateralltag auch antreffe und deshalb eine Strategie anwende, um darauf adäquat zu reagieren.

Aktuell bin ich in einem Kundenprojekt mit dem Ziel, unterschiedlichste Rollen im Umgang mit Anforderungen zu qualifizieren. Im Spiel wurde mir klar, dass ich die identifizierten Effekte in meinem Projekt teilweise auch beobachtet hatte.

Anstatt eine mehrtägige Schulung mit den Betroffenen durchzuführen, haben wir uns entschieden, das Ziel im Rahmen einer Coaching-Maßnahme in konkret laufenden Projekten, zu erfüllen. Dieses andere Vorgehen möchte ich nun in Beziehung zu den Beobachtungen aus dem Kartenspiel darstellen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unser verwendeter Coaching-Ansatz besteht aus einem Kick-Off Workshop, der die Grundbegriffe des Anforderungsmanagements anhand eines konkreten Anforderungsbeispiels vermittelt. Danach folgen Coaching-Sessions mit dem Ziel, die in der Session eingebrachten Anforderungen mit den Beteiligten qualitativ zu verbessern. Dadurch stellen wir sicher, dass die aufgewendete Zeit für die Beteiligten sich als wertvoll darstellt, da konkrete Anforderungen für ihr Projekt erstellt bzw. existierende Anforderungen verbessert werden.

Selbstverständlich gibt es im Vergleich zum Kartenspiel auch Aspekte, die eher nicht vergleichbar sind. Ich denke, die Spielregeln müssen in jedem Fall und sei es erst nach einer gewissen Zeit, erklärt werden, damit das Spiel auch in Gänze richtig gespielt werden kann. Der Spielspaß wird damit gegenüber vereinfachten Anfängerregeln deutlich gesteigert, weil es nicht zu störenden Unstimmigkeiten zwischen den Spielteilnehmern kommt. Bei unseren Anforderungen würde ich dies jedoch nicht in jedem Fall unterschreiben. Es gibt vielleicht Methoden oder Aspekte von guten Anforderungen, die vielleicht grundsätzlich und formal richtig sind, aber ob diese Methoden in dem konkreten Projekt in einem vernünftigen Verhältnis von Erklärungsaufwand und Nutzen stehen, muss in jedem Projekt neu entschieden werden. Ziel im Coaching soll sein, immer nur die Dinge zu tun, die in genau diesem Kontext auch zu einem signifikanten Nutzen führen.

Unter bestimmten Voraussetzungen machen Schulungen selbstverständlich Sinn und können auch ein guter Startpunkt bei einer größeren Änderungsinitiative sein. Gerade auch um das Team nochmal zusammenzubringen, bieten sich solche Veranstaltungen gut an. Auch wenn es darum geht, unternehmensspezifische Prozesse oder Methoden zu vermitteln, können Schulungen in einem sinnvollen Zeitrahmen bei der Erreichung der Ziele gut unterstützen. Ebenso verhält es sich, wenn eine offizielle Zertifizierung Ziel der Personen bzw. Unternehmen ist.

Schauen wir mal, wie ich das nächste Mal ein neues Spiel erklären werde.

Bei den Anforderungen bleibe ich dennoch den oben aufgeführten Prinzipien treu, denn ich bin davon überzeugt, dass diese Coaching-Maßnahmen sich bewähren und langfristig nachhaltig in Unternehmen Nutzen generieren werden.

Series Navigation<< Werkzeuge für “Specification by Example”

Frank Stöckel

Kontaktieren Sie Frank Stöckel

Herr Frank Stöckel ist als Principal Consultant im Bereich Requirements Engineering (RE) tätig. Seine Schwerpunkte liegen in der Einführung von Requirements Engineering in Entwicklungsunternehmen mit Hilfe von Assessments, Seminaren, Workshops und Coaching. Fokus hierbei stellen wichtige initiale Pilotprojekte dar, die dann in unternehmensweite Prozessverbesserungsmaßnahmen führen, um RE langfristig in Entwicklungsunternehmen zu etablieren. Herr Stöckel führt Werkzeugauswahlverfahren für RM Tools durch, erarbeitet Konzepte zur Realisierung und Einführung von DV-Lösungen unter Einbindung von Werkzeugen des gesamten Entwicklungsprozesses. Darüber hinaus hat er in den letzten Jahren insbesondere in der Automobilindustrie Produktivstellungen (Roll-Outs) sowie Prozessentwicklungen von Anforderungsmanagement inkl. angrenzenden Prozessdisziplinen wie Projekt- und Testmanagement, Änderungsmanagement, Systemmodellierung, Lieferantendatenaustausch etc. erfolgreich geleitet. Kenntnisse in Modellierungstechniken runden sein Profil ab. Als erfahrener Trainer gibt er sein vielfältiges Wissen weiter, z.B. auch als akkreditierter Trainer für den Kurs „Certified Professional Requirements Engineering - Foundation Level".