Wie entstand das Anforderungsmanagement?
Die Ursprünge des Anforderungsmanagement liegen in den Raketenprogrammen der USA in der Zeit von 1945-1970. Unser Gastautor Jan Fischbach fasst die Entwicklung zusammen.
Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Theorie von Raketen erforscht
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeln mehrere Pioniere gleichzeitig und unabhängig voneinander eine Theorie über Raketen. Das waren Konstantin Ziolkowski (1857–1935), Robert Goddard (1882–1945) und Hermann Oberth (1894–1989). Das Militär in Nazideutschland finanzierte im großen Stil die Raketenentwicklung. Daraus entstand das Aggregat 4 bzw. die V2. Abbildung 1 zeigt, wie sich die Pioniere gegenseitig beeinflusst haben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wechseln im Rahmen der Operation Paperclip Wernher von Braun (1912-1977), Walter Dornberger (1895-1980), Kurt Debus (1908-1983) und andere in die Vereinigten Staaten. Sie entwickeln dort die V2 weiter. Die Nachfolgemodelle spielen eine wichtige Rolle im Raumfahrtprogramm der Amerikaner. Von Braun und Debus bekommen Direktorenposten in der NASA.
Die Amerikaner entwickeln im Kalten Krieg ballistische Interkontinentalraketen
Im Jahr 1954 beginnt Bernard Schriever (1910-2005) mit Nachdruck die Entwicklung der Interkontinentalraketen (engl. ICMB) als Abschreckungswaffe. Die Air Force lässt die Raketen vom Atlas und vom Typ Titan entwickeln. (Gleichzeitig wird die Thor als Mittelstreckenwaffe entwickelt.) Die Entwicklung von Raketen ist unsicher und von Fehlschlägen geprägt.
Atlas und Titan sind Flüssgkeitsraketen, d. h. sie müssen vor dem Einsatz mit flüssigem Treibstoff betankt werden. Das war umständlich, gefährlich und langwierig. Für eine schnelle, militärische Reaktion waren diese Raketen nicht geeignet. Ab 1956 haben die Wissenschaftler damit begonnen, festen Treibstoff für Raketen zu entwickeln. Durch die neue Antriebsart waren die Waffen sofort einsetzbar. Dafür mussten neue Flugkörper entwickelt werden. In diesem Fall waren das die Minuteman-Raketen. Feststoffraketen sind aus militärischer Sicht interessanter. (Die bereits produzierten Atlas-, Titan- und Thor-Raketen kamen später in den Weltraumprogrammen als Trägersysteme für Satelliten und Raumschiffe zum Einsatz.)
Sam Phillips etabliert Konfigurationsmanagement bei der NASA
Samuel Phillips (1921-1990) ist der Projektmanager (der Air Force), der bei Entwicklung der Minuteman-Rakete das Konfigurationsmanagement von Boeing entdeckt. Sofort erkennt er den Nutzen für die Raketenentwicklung. Viele Fehlstarts lassen sich darauf zurückführen, dass die Komponenten der unterschiedlichen Hersteller nicht zusammen passten. Änderungen an den Einzelkomponenten waren gewünscht. Aber es war wichtig, dass alle Beteiligten die Änderungen mitbekommen. Phillips greift zu einem Trick: er verbindet Konfigurationsänderungen mit der Pflicht, die Auswirkungen auf Zeit- und Kostenplan mitzuliefern. Phillips kann damit das Minuteman-Programm in time und under budget abschließen.
Auf einer Management-Konferenz der Air Force im Jahr 1962 stellt Boeing das Verfahren genauer vor./1/ Konfigurationsmanagement besteht aus drei Funktionen:
- Identification Control: Means for defining and identifying precisely every element of the evolving system from initial requirement through the delivery of operable systems, including all supporting data, drawings, and hardware.
- Change Control: Means for controlling the effect of changes and for implementing them in the most expeditious manner.
- Accountability Control: Means for recording identification and changes associated with the evolving system configuration, including supporting data, drawings, and hardware.
In dem Beitrag werden weitere Details erwähnt:
- Es muss ein formales System geben, in dem alle technischen Anforderungen eines Systems und alle „End Items“ erfasst werden.
- Es braucht ein Schema zur eindeutigen Benennung aller End Items.
- Es gibt einen Konfigurationsmanager, der dem Programmmanager untersteht. In jeder Linienabteilung gibt es ebenfalls Mitarbeiter, die für das Konfigurationsmanagement zuständig sind.
- Der Konfigurationsmanager leitet ein Change Board mit Vertretern aus den verschiedenen Bereichen, damit alle Beteiligten die nötigen Änderungen freigeben können.
Später leiht Bernard Schriever Samuel Phillips an das Apollo-Programm aus. Zusammen mit Acting Director George Mueller (1918-2015) strafft er die losen Managementstrukturen an den Forschungszentren der NASA und etabliert Konfigurationsmanagement./2/
Wer sich noch mehr für die Details interessiert, sollte einen Blick in das Buch “The secret of Apollo: Systems management in American and European space programs” von Stephen B. Johnson werden./3/
Literatur
- /1/ Wood, Lysle A.: Configuration management. In: paper delivered at the Air Force Systems Command Management Conference, Monterey, Calif. 1962. S. 2-4. abrufbar bei Google Books: https://www.google.de/books/edition/_/fKTI_yqt0BMC
- /2/ Johnson, Stephen B.: Samuel Phillips and the taming of Apollo. Technology and culture, 2001, 42. Jg., Nr. 4, S. 685-709. abrufbar unter https://www.jstor.org/stable/25147800 (kostenlose Registrierung erforderlich)
- /3/ Johnson, Stephen B.: The Secret of Apollo : Systems Management in American and European Space Programs. London: JHU Press, 2006. https://www.press.jhu.edu/books/title/2845/secret-apollo
Jean Pierre Berchez und Jan Fischbach haben diese Geschichte im April 2024 auf der REConf in München vorgestellt. Beide sind Trainer im Scrum-Events-Netzwerk. Auf der REConf im April 2023 haben sie bereits eine Ideengeschichte zu Scrum vorgestellt.
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Jan Fischbach
Kontaktieren Sie Jan FischbachJan Fischbach ist Trainer und Berater im Netzwerk von Scrum Events.