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9 January 2018 @ Julia Graßinger

Die Kunst eines Teams, sich selbst zu organisieren

Abenteuer und eine Kiste voller Gold und Perlen! Zu meinem elften Geburtstag hatte ich mir eine Schatzkarte gewünscht. Ich wollte meinen Mut beweisen und selbständig und unabhängig sein. Heute weiß ich, der größte Reichtum ist die Gruppe von Menschen, mit denen man tagtäglich zusammenarbeitet. Und das größte Abenteuer ist es, ein Team dahin zu begleiten, die Kunst der Selbstorganisation zu lernen.

Mein erstes selbstorganisiertes Team vor 20 Jahren ergab sich eher zufällig: die Leute, die uns sagen sollten, was wir wie zu tun hatten, hatten sich schlichtweg geweigert, diese Rolle zu übernehmen. Das klappte zufällig ganz gut – irgendwie war jeder in dem Maße eingebunden, in dem er es wollte. Die Arbeitsergebnisse stimmten. Kein Grund zur Beschwerde.

Dann wurde es anders: wir quälten uns durch unendliche Meetings. Jeder war unzufrieden. Man konnte dem anderen nicht mehr trauen. Die Arbeitsergebnisse passten nicht. Ich war frustriert und wütend: Es muss doch einen anderen Weg geben!?!

Wie bei einem Abenteuer üblich, kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich lernte einige Menschen kennen, die sich mit Führung, kultureller Kompetenz, Entscheidungsfindung und Konfliktlösung auseinandersetzten. Fünf Jahre war ich auf einer Reise, mehr über diese Kompetenzen zu lernen. Nun begleite ich Menschen dabei, die Ergebnisse zu erzielen, die sie sich wünschen. Hier habe ich einige meiner Erkenntnisse über die Kunst selbstorganisierter Teams für Sie zusammengefasst:

Ein selbstorganisiertes Team bezeichnet eine Gruppe von drei bis neun Menschen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen und dabei unabhängig von äußeren Faktoren über das Was und das Wie ihres Arbeitsprozesses entscheiden.

„Wir haben eine gemeinsame Geschichte“

Im Mittelpunkt eines selbstorganisierten Teams steht ein kollektives Erfahrungswissen. Eine Erzählung darüber, woher das Team kommt und wo es hinmöchte, welche Herausforderungen es bewältigen musste und welche Lösungen funktioniert haben und welche nicht. Diese Geschichte kann mehrdeutig sein und manchmal widersprüchlich. Doch jedes Teammitglied kennt den roten Faden und kann miterzählen. So wird kollektives Erfahrungswissen gesammelt, erhalten und interpretiert. Je reicher die Erzählung an Referenzerfahrungen ist, desto mehr Ressourcen hat das Team um auf Basis dieser Erfahrungen Entscheidungen zu treffen und zu handeln.

Dass diese Geschichte entsteht, braucht es die Selbstbeobachtung des Teams. Im Scrum-Guide wird dafür die Reflexion des Teamprozesses in der Retrospektive am Ende eines Sprints empfohlen. Kanban pflegt die stetige visuelle Selbstbeobachtung des Arbeitsprozesses durch das Team und die Interpretation der gesammelten Daten ebenfalls in der Retrospektive.

In meiner Erfahrung hat sich gezeigt, dass der Aufbau von Erfahrungswissen oft nicht gut funktioniert. Die Teammitglieder sind nicht ausgebildet in Selbstbeobachtung. Erfahrungen werden nicht systematisch getestet, sondern dem Zufall überlassen. Das macht ein Team langsamer, als es sein müsste. Um das Erfahrungswissen kompetent aufzubauen hat sich die Unterstützung erfahrener Agile Coaches für mich bewährt.

 „Wir wissen, wie wir zusammenarbeiten – und können darüber reden“

Auf der Basis der Selbstbeobachtung des Teams, definieren die Teammitglieder Erwartungen und Regeln an sich selbst. So kann das Team Geschwindigkeit aufnehmen und Sicherheit und Selbstbewusstsein gewinnen.

Gut eingespielte Teams ersetzen schriftlich fixierte Regeln und Erwartungen oft durch implizit angenommene Traditionen und Rituale. Doch sobald neue Teammitglieder dazustoßen, wird die fehlende Dokumentation zum Problem: Wie kann man sich zu etwas verpflichten, bei dem man nicht weiß, worauf man sich einlässt? Durch die schriftliche Fixierung können Regeln leichter verstanden und auf die vorhandenen Teammitglieder angepasst werden.

Durch professionelle Begleitung findet ein Team zu den Regeln, die für die Teammitglieder passen. So entsteht mehr Geschwindigkeit und Motivation.

Inhaltlich beschreiben die Regeln und Erwartungen, wie die Zusammenarbeit im Team gestaltet wird. Selbstorganisation heißt dabei nicht die Abwesenheit von Hierarchie. Je nachdem was die Teammitglieder an Erfahrungen und Expertenwissen mitbringen, ergeben sich natürliche Hierarchien und Informationsströme. Die Regeln dürfen das transparent machen. Um Flexibilität zu erhalten kann das Team rotierende Führung anstreben, oder einen Servant Leadership Ansatz verfolgen.

„Wir treffen Entscheidungen“

Je weiter das Team sich entfernen möchte von tradierten Zusammenarbeitsmodellen, desto wichtiger wird es, dass das Team entscheidet, wie und von wem Entscheidungen getroffen werden. Verschiedene Varianten haben ihre jeweiligen Vor- und Nachteile: Entscheidet nur ein Teammitglied, so kann das Team schneller agieren, als wenn alle Teammitglieder oder gar Stakeholder im Konsens befragt werden müssen.

Demokratische Entscheidungen scheinen erstmal als gewohnte Option. Doch das Team wird in der Meinungsbildung polarisiert und es entsteht anschließend die Geschichte von ‚Verlierer‘ und ‚Gewinner‘.

Gute Entscheidungsfindung gelingt durch Delegation Poker oder Initiativentscheidung mit dem Vier-Augen-Prinzip, Konsensentscheidungen oder systemisches Konsensieren. Alle diese Methoden brauchen jedoch Übung. Es schadet nicht, sich am Anfang einen Experten mit ins Boot zu holen, der auf Feinheiten achtet und das Team anfangs unterstützt, den eigenen Weg zu guten Entscheidungen zu finden.

„Wir klären Meinungsverschiedenheiten“

Ein selbstorganisiertes Team gibt interne Konflikte nicht an eine Stelle außerhalb des Teams ab, sondern löst diese selbstständig. Dafür ist es hilfreich, dass das Team vor dem Konflikt Einigung erreicht, wie mit einem Konflikt umgegangen werden soll. Ein mögliches Vorgehen könnte in fünf Stufen erfolgen, wobei die Teammitglieder sich verpflichten, möglichst nur die ersten Stufen zu Nutzen.

Zu Beginn steht die Klärung unter vier Augen mithilfe von gewaltfreier Kommunikation. Als zweiter Schritt kann ein bisher unbeteiligtes Teammitglied als Vermittler hinzugezogen werden. Bringt auch dieser Schritt keine Klärung, hält das gesamte Team einen Raum in dem alle Teammitglieder mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen gehört werden. In der vierten Stufe bittet das Team eine moralisch gewichtige Instanz außerhalb des Teams um Rat. Das kann ein Vorgesetzter, ein Supervisor oder ein geschätzter Kollege sein. Doch nur, wenn aus dem Rat keine Verpflichtung wird, bewahrt das Team seine Selbstorganisation. Um diese Grenze zu wahren braucht es bereits virtuose Teammitglieder. Im letzten Schritt bleibt dem Team dann die Möglichkeit, sich über den Konflikt neu zu organisieren, sich aufzulösen oder sich zu trennen. Es bleibt die Verantwortung der Teammitglieder, auf welcher Stufe der Konflikt gelöst werden kann.

„Wir kennen unsere Grenzen“

Echte selbstorganisierte Teams definieren ihre eigenen Grenzen selbst. Das Team entscheidet, wer im Team ist. Gute Regeln bestimmen die inneren Prozesse. Hält ein Teammitglied dir Regeln wiederholt nicht ein, stellt es sich außerhalb des Teams. Doch auch andere Schnittstellen können definiert werden: Zu welchem Output verpflichtet sich das Team? Woher wird Input bezogen? Auf welchen Wegen erhält das Team als Ganzes Feedback und wie die einzelnen Teammitglieder? Welche Systemumwelt ist relevant für das Team, welche nicht?

Gute selbstorganisierte Teams können sich selbst regulieren. Sie sind nicht angewiesen darauf, dass ihnen von außen vorgegeben wird, was sie tun müssen um ihr Ziel zu erreichen. Auch über das Wie können sie im Rahmen von Randbedingungen wie Gesetzen und Organisationsvorgaben selbst bestimmen.  So werden sie zur Black Box mit klaren Schnittstellen.

Ich konnte in meinen Erfahrungen mit Teams beobachten, dass wenn alle diese Aspekte berücksichtigt sind, kann echte Selbstorganisation gelingen. Natürlich ist die Liste nicht vollständig. Selbstorganisation ist eine Kunst, und auch immer ein Abenteuer. Jedes Team muss seinen eigenen Weg zu echter Selbstorganisation finden. Sind Sie auch schon auf dem Weg? Schreiben Sie mir einen Kommentar über die Herausforderung, der Sie sich gerade stellen.

Ich und meine Kollegen bei HOOD begleiten Teams dabei, Selbstorganisation zu lernen. Wir freuen uns, auch Sie dabei zu haben.
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Julia Graßinger

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Julia Graßinger begleitet mit Neugierde und Mut als Coach bei Agile-by-HOOD Menschen, Teams und Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Durch ihre systemisch-empirische Haltung erschafft sie Räume, in denen Menschen Selbstwirksamkeit erleben und sich im komplexen Umfeld zurechtfinden lernen. Wichtige Elemente in ihrer Arbeit sind Kreativität, Begegnung und Fokus. Aus ihrer Zeit als Gründerin und freiberufliche Trainerin im Startup Umfeld kennt sie aus persönlicher Erfahrung die Herausforderung sich schnell ändernder Märkte. Als Host für Ideenentwicklung und Facilitatorin für Teamprozesse und Erfahrungsbasiertes Lernen bringt sie langjährige und vielseitige Erfahrungen aus dem Projektgeschäft und in der Entwicklung komplexer Produkte und Systeme mit. Durch ihre Arbeit mit Design Thinking und Lean Sartup Methoden gilt ihre Aufmerksamkeit dem Erheben und Strukturieren von Anforderungen sowie dem empathischen Umgang mit Stakeholdern.