Und plötzlich war alles zu spät
Haben Sie das vielleicht auch schon erlebt? Wie aus heiterem Himmel finden Sie sich in einer ausweglosen Situation wieder. Das Unternehmen läuft auf einmal gegen die Wand, die Produktentwicklung stagniert schlagartig, Liefertermine werden nicht mehr eingehalten, Kunden springen in Scharen ab – sie können eigentlich nicht mehr reagieren – Konkurs, es ist alles zu spät.
In den meisten Fällen entstehen solche Ereignisse nicht über Nacht. Sie entstehen allmählich und schleichend, so dass wir sie erst bemerken, wenn es zu spät ist. Eine unzureichende Anpassung an allmählich wachsende Bedrohungen ist häufig die Ursache für das Scheitern von Unternehmen, weshalb das Gleichnis vom »gekochten Frosch« von Peter M. Senge (2011) hier sehr gut passt.
„Wenn Sie einen Frosch in einen Topf mit kochendem Wasser setzen, wird er sofort versuchen herauszuklettern. Aber wenn das Wasser Zimmertemperatur hat und Sie den Frosch nicht erschrecken, bleibt er ganz ruhig sitzen. Steht der Topf nun auf einer Wärmequelle und wird die Temperatur allmählich erhöht, geschieht etwas sehr Interessantes. Während die Temperatur von 20 auf 30 Grad Celsius steigt, bewegt sich der Frosch nicht. Er wird tatsächlich alle Anzeichen von äußerstem Wohlbehagen zeigen. Während die Hitze nach und nach zunimmt, wird der Frosch immer schlapper und schlapper; bis er unfähig ist, aus dem Topf herauszukraxeln. Obwohl der Frosch durch nichts daran gehindert wird, sich zu retten, bleibt er sitzen, bis er kocht.
Warum? Weil der innere Wahrnehmungsapparat des Froschs auf plötzliche Veränderungen in seiner Umwelt eingestellt ist und nicht auf langsam wachsende Bedrohungen.“[1]
Mit der amerikanischen Automobilindustrie geschah etwas Ähnliches. In den 1960er-Jahren beherrschte sie den nordamerikanischen Markt. Der Marktanteil japanischer Hersteller lag 1962 bei unter 4 Prozent. Damals hielt keiner der drei großen Detroiter Autohersteller die Japaner für eine ernsthafte Bedrohung. Das war auch 1967 noch so, als der Marktanteil weniger als 10 Prozent betrug. Die gleiche Einschätzung hatte man auch noch 1972, als japanische Hersteller unter 15 Prozent Marktanteil hatten. Erst 1980 begannen die »großen Drei« ihre eigenen Grundannahmen kritisch zu überprüfen. Da stieg der japanische Marktanteil auf über 21 Prozent. 1990 näherte sich der japanische Anteil auf dem amerikanischen Automarkt der 25 Prozent-Marke zu und 2005 lag er schon bei knapp 40 Prozent. Angesichts der schwierigen finanziellen Lage der US-amerikanischen Autohersteller war es schon zu diesem Zeitpunkt unklar, ob dieser ››Frosch« noch die Kraft haben würde, aus dem heißen Wasser herauszuhüpfen. Die dramatische Entwicklung im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09, als nur noch die rettende Hand des Staates die US Autobauer vor dem Kollaps bewahren konnte, bestätigte letztendlich das Gleichnis vom gekochten Frosch einmal mehr in eindrucksvoller Weise. Vielen anderen Unternehmen ergeht es ähnlich, wenn sie solche allmählich wachsenden existenziellen Bedrohungen nicht oder sehr spät wahrnehmen. Banken, Telekommunikationsunternehmen und Energieversorger sind sicher passende und aktuelle Beispiele.
Die zu späte Wahrnehmung der Organisation wird noch dadurch verschärft, dass viele Entwicklungen durch Verstärkungsschleifen beschleunigt werden. Begriffe wie Schneeballeffekt oder Teufelskreis werden dafür häufig verwendet. Im Wertpapierhandel an den Börsen können solche Situationen immer wieder beobachtet werden: Ein Vertrauensverlust bei einigen wenigen Personen binnen kürzester Zeit setzt einen Teufelskreis schwindenden Vertrauens in Gang, sodass die Leute schließlich massenweise abspringen. Einige Börsen, wie die chinesischen, schließen dann ihren Handel, um solche Teufelskreise zu unterbrechen.
Verstärkungsschleifen sorgen für eine ungeheuer schnelle Beschleunigung der Entwicklung, und deshalb kommen sie für uns häufig völlig überraschend. Ein französisches Kinderlied veranschaulicht diesen Prozess.
„Zuerst schwimmt nur eine einzige Seerose irgendwo auf dem Teich. Aber mit jedem Tag verdoppelt sich die Zahl der Seerosen. Es dauert dreißig Tage, bis der Teich völlig davon bedeckt ist, aber während der ersten achtundzwanzig Tage nimmt niemand Notiz davon. Am neunundzwanzigsten Tag ist der Teich plötzlich zur Hälfte mit Seerosen bedeckt, und die Dorfbewohner machen sich Sorgen. Aber jetzt kann man kaum noch etwas tun. Am nächsten Tag haben sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet.“ [1]
Wenn das Problem erkannt wird, könnte es zu spät sein. Das Artensterben folgt häufig einem sich allmählich beschleunigenden Schrumpfungsmuster, das sich insgesamt über lange Zeiträume entwickelt, bis die Spezies dann plötzlich von der Erde verschwunden ist. Dasselbe gilt für das Unternehmenssterben.
In der Natur laufen schnelle Wachstums- und Schrumpfungsprozesse selten unkontrolliert weiter, weil Verstärkungsprozesse kaum isoliert voneinander auftreten. Sie stoßen letzten Endes auf Grenzen, die das Wachstum verlangsamen, stoppen, in andere Bahnen lenken oder umkehren. Dem Verstärkungsprozess steht also ein Ausgleichsprozess entgegen, der für eine Systemstabilisierung sorgt. Sogar die Seerosen hören auf zu wachsen, wenn sie an die Grenzen des Teichs stoßen.
Wenn wir also Situationen vermeiden wollen, in denen es plötzlich zu spät ist, müssen wir eine feine Wahrnehmung für allmählich wachsende Bedrohungen entwickeln und wir sollten stets die Ausgleichsprozesse kennen, die unseren Wachstums- und Schrumpfungsprozessen entgegenstehen. Denn nur mit diesem Bewusstsein können wir so handeln, dass wir stabile und nachhaltige Unternehmen entwickeln.
Siehe hierzu auch:
„Management und Agil – wie passt das zusammen?“
Was Manager schon immer über „Agile“ wissen wollten …
[1] Peter M. Senge, Die fünfte Disziplin, Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2011
Diskussion
2 Antworten zu “Und plötzlich war alles zu spät”
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Jens Donig
Kontaktieren Sie Jens DonigJens Donig ist systemischer Coach (dvct) und Principal Consultant für Software- und Systems- Engineering. Die Schwerpunkte seiner Coaching- und Beratungstätigkeit liegen in den Bereichen Organisationsentwicklung, Teamentwicklung und der persönlichen Entwicklung seiner Kunden. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mich intensiv mit der nachhaltigen Verankerung von Veränderungsprozessen in Organisationen verschiedener Branchen. Auf Basis des systemischen Coachings, von Transformationsprozessen und agiler Werte und Prinzipien, begleitet er seine Kunden erfolgreich auf ihrem persönlichen Weg der Weiterentwicklung und Veränderung.
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Danke für die Gedankenanstösse, Beispiele und Bilder, die unsere Trägheit wunderbar veranschaulichen. Der arme Frosch wird mir so schnell nicht aus dem Kopf gehen.
Komfortzone, Scheu vor Veränderung und Habsucht sind die Begriffe, die mir spontan dazu in den Sinn kommen. Wo sind die Grenzen des Wachstums? Ab wann wird es unkontrollierbar? Ich glaube fest daran, dass Unternehmen gut damit fahren, ihren unliebsamen Bedenkenträgern und Nörglern mehr Gehör zu geben, die ihre Warnungen und Befürchtungen ja rechtzeitig formulieren. Gleichzeitig brauchen die Mutmacher und Experimentierfreudigen ihren Wirkungskreis. Wie ist es um die Feedback- und Fehlerkultur im Unternehmen bestellt?
Zum Schluss meine Frage in die Runde: Sind die Eigenschaften „stabil“ und „nachhaltig“ im Sinne von „langlebig“ überhaupt noch zeitgemäß?
Vielen Dank für die guten Fragen und Gedanken. Der Frosch und die Seerosen zeigen aus meiner Sicht vor allem auf, dass wir uns schwer tun, mit Veränderungen angemessen umzugehen. Ich beobachte häufig, dass die Integrität vieler Menschen auf dem Bewahren der aktuellen (unveränderten) Umwelt beruht. Je stärker sich diese Umwelt aber verändert, desto mehr Konflikte, Widerstände und Barrieren entstehen bei diesen Menschen. Stabilität und Nachhaltigkeit im Sinne einer unveränderten Umwelt scheint mir nicht zeitgemäß.
Ein weiterer persönlicher Aspekt, der uns vielleicht erst auf den zweiten Blick Veränderungsresistent macht, ist unser Bedürfnis nach Anerkennung, dass sich bei „Gleichgesinnten“ leichter erfüllen lässt.
Wenn ich an stabile und nachhaltige Unternehmen denke, sind das solche Organisationen, die in der Lage sind sich ständig zu Verändern. Die Integrität ergibt sich, anders als oben skizziert, aus der Fähigkeit, Umweltveränderungen (Kunden, Technologien, Märkte, Innovationen, Gesellschaft usw.) aufzunehmen und in verändertes wirtschaftliches Handeln zu übertragen. Apple und Microsoft sind, meiner Meinung nach, zwei solche Unternehmen.
Werte und Kultur sind für die Veränderungsfähigkeit essentiell. Genauer gesagt ist es die Diversität von Teams. Wir müssen es wollen, uns mit andersdenkenden Menschen konstruktiv auseinander zu setzen. Nur so schaffen wir eine Umgebung, die neue Ordnungsmuster generieren kann. Und nur mit neuen Ordnungsmustern werden Unternehmen ihr Handeln adäquat an veränderte Umwelten anpassen.
Wenn sich nun jeder die Frage beantwortet, wie in seinem Unternehmen Diversität gefördert wird und ob man auch selber bereit ist, seine Anerkennung von „Andersgesinnten“ zu erhalten, kann man eine grobe Vorstellung entwickeln, wie stabil und nachhaltig die eigene Organisation ist.