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29 September 2015 @ Christian Wünch

Usability Requirements Engineering!

Anforderungen an ein Produkt kommen von ganz unterschiedlicher Seite: Normen, Gesetze und Richtlinien, Umwelteinflüsse, andere Systeme oder auch Prozesse. Die wichtigste Quelle ist und bleibt jedoch der Mensch. Schließlich werden die meisten Systeme am Ende auch durch Menschenhand bedient.

Die Diskrepanz zwischen anfänglichen Nutzererwartungen und praktikablem Ergebnis eines Entwicklungsprojektes ist allerdings häufig groß; auch adaptive Änderungen am Produkt oder Prototypen in kurzen Iterationen bringen oftmals nicht die gewünschte Zufriedenheit.

Warum ist das so? Die Entwicklung durch Prototypen, erlebbare Ergebnisse und frühzeitige Testvarianten ist zwar anwenderfreundlich und flexibel, hat bei unvorsichtiger Durchführung allerdings auch Nachteile. Sie kann wie ein Korsett wirken.

Eine Auftragsarbeit wird durch kurzfristige Entwicklungsergebnisse für den Kunden nachvollziehbar und plastisch. Über die Erfahrung des Erlebens und Anfühlens durch einen ersten Prototyp kann der Nutzer gezielt auf die weitere Konzeption Einfluss nehmen. Häufig wird aus einem ersten technischen Entwurf im Laufe einer Entwicklung das spätere Endprodukt (evolutionärer Prototyp). Der Nutzer begleitet dieses Produkt bei dessen Entstehung. Kreativität, Innovationskraft und vor allem unterbewusste Kundenbedürfnisse bleiben aber häufig unerkannt. Die faktische „Realität“ des Prototyps schränkt den Anwender bereits ein. Das Zusammenspiel zwischen Anwender und Entwickler reduziert sich auf ein „Angebot akzeptiert“ oder „Angebot abgelehnt“. Hinzu kommt, dass ein technischer Prototyp häufig aus dem Standardrepertoire der Entwickler entsteht. Innovation und Einfallsreichtum daher häufig nicht gefördert.

Hier sind Konzepte wie Usability Engineering oder User Experience, die den Nutzer in den Mittelpunkt rücken, tatsächlich nur bedingt nutzerzentriert.

Um auf möglichst breiter Spur entwickeln zu können, ist eine Verlagerung bekannter UI/UX-Ansätze in den Analysebereich bzw. in die Anforderungsermittlung sinnvoll. Low-Fi-Prototypen mit Flipchart, Smartphone-Kamera oder Wireframes sind nicht restriktiv, suggerieren kaum Umsetzung oder Lösung und verursachen weit weniger Hemmungen, das Erstellte wieder vollends zu verwerfen und neu anzufangen. Sie sollten daher parallel zu technischen Prototypen weiterhin eingesetzt werden.

Die klassischen Bezeichnungen Usability Engineering und Requirements Engineering sollten enger zusammenwachsen und die Schwerfälligkeit des Engineering-Begriffs durch agile Entwicklungsprinzipien aufgeweicht werden. Für eine moderne, nutzerzentrierte Entwicklung gelten daher folgende Prinzipien:

  • Usability von der Entwicklung stärker in die Analyse verlagern
  • Der Entwurf neuer Ideen, Möglichkeiten und potentieller Lösungen muss zuerst in die Breite gehen (Divergenz anstatt Konvergenz)
  • Der Charakter eines Prototyps muss zuerst explorativ und dann experimentell sein
  • Verstärkte Bereitschaft bereits Entwickeltes wieder aufzugeben (kein einzelner evolutionärer Prototyp)
  • More Paper, less Code – Low-Fi-Prototypen und Kreativtechniken für mehr Freiheit, Ideenentwicklung und innovative Wagnisse

 

In den nächsten Beiträgen möchte ich auf diese Prinzipien genauer eingehen und konkrete Techniken beschreiben, wie wir den Einbezug des Nutzers bzw. der unterschiedlichen Nutzergruppen verbessern können, um gemeinsam innovative Produkte zu entwickeln.

Christian Wünch

Kontaktieren Sie Christian Wünch

Christian Wünch ist Consultant, Trainer und Coach bei der HOOD Group. Er berät unterschiedlichste Branchen aus Wirtschaft und Industrie auf den Gebieten der Systemanalyse und des Requirements Engineering. Seine Schwerpunkte liegen in der Analyse und Verbesserung von Systementwicklungsprozessen, RE-Einführungsstrategien sowie Requirements Management. Neben regelmäßigen Vorträgen und Veröffentlichungen für Konferenzen und Fachpresse zum Thema RE beschäftigt er sich mit den Möglichkeiten der Formalisierung von Anforderungen und sucht nach Wegen, natürlichsprachige Anforderungen für Systeme und Menschen verständlicher zu machen.