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29 July 2015 @ Jens Donig

Der Mythos von Rationalität – Warum gibt es Unternehmen?

unlogischEinen weiteren sehr interessanten Aspekt aus der Einführung in die systemische Organisationstheorie von Fritz B. Simon möchte ich heute vorstellen.

Es geht um Rationalität und wie damit umgegangen wird.
Ich finde diesen Aspekt deshalb so erwähnenswert, weil sich viele Argumentationen in hitzigen Debatten über die „neuen Unternehmensorganisationen“ meist auf rationale Zwecke stützen.

Fritz B. Simon entlarvt auf unbestechliche Art und Weise, wie ich finde, den Mythos der Rationalität und zeigt dabei essentielle Zusammenhänge auf, die dazu anregen, die Eigenschaften von Unternehmen als autopoietische Systeme zu reflektieren. Es muss dabei ein Bild über Unternehmen in unserer Wirtschaft entstehen, mit dem Sie Themen wie: Soziokratie 3.0, KVP, Selbstorganisation, dynamikrobuste Organisationen, Organisation für Komplexität, Scaling Agile oder Beyond Budgeting besser einordnen können.

Zweckrationalität: Zwecke und Mittel

Viele Organisationstheoretiker gehen davon aus, dass Organisationen einer Zielerreichung dienen. Die Idee der Rationalität von Organisationen ist damit eng verbunden. Das bedeutet nicht, dass notwendigerweise organisatorisches Handeln logisch oder vernünftig ist. Sondern das organisatorisches Handeln auf ein Ziel hin erdacht, gemeint, geplant, kalkuliert oder entworfen ist. Der Nachdruck liegt auf dem Gedanken, dass, was in einer Organisation geschieht, zu irgendeinem Zeitpunkt erwartet oder geplant worden ist (vgl. Weick 1979).

„Zweckrationalität von Organisationen ist ein Mythos, der eng mit dem Ingenieurs- und Maschinenmodell verbunden ist. Denn schließlich braucht man ja auch Maschinen und Apparate (Rasenmäher) als Mittel zum Zweck, damit sie das tun, was man persönlich nicht tun kann oder mag (Rasen mähen).

Dass Organisationen oft zum Erreichen konkreter Ziele ins Leben gerufen werden, ändert nichts an ihrer davon unabhängigen Eigenlogik, d.h. der Autonomie autopoietischer Systeme: Man kann schließlich auch ein Kind aus zweckrationalen Gründen zeugen (um jemanden zu haben, der den Rasen mäht etc.), aber sobald solch ein Wesen seine autopoietischen Prozesse der Selbstkreation und des Selbsterhalts begonnen hat, d.h. noch im Mutterleib, entwickelt es sich seiner eigenen internen Strukturen entsprechend. Es kommt dann früher oder später fast zwangsläufig zu Konflikten zwischen ihm und seinen „Erzeugern“ („Gründern“, „Besitzern“), wenn es sich z.B. weigert, den Rasen zu mähen.

Überträgt man dieses Bild auf Organisationen, so zeigt sich, dass irgendwelche sachlichen Ziele gegenüber dem reinen Selbsterhalt des Systems sekundär sind. Das macht die Organisation als Typus des sozialen Systems in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen so vielfältig verwendbar.

Sie kann für alle möglichen Zwecke funktionalisiert werden, sei es in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Erziehung, der Rechtsprechung, der Kriegsführung usw.

Hinzu kommt, dass an ihrem Zustandekommen und Erhalt eine große Zahl von Akteuren beteiligt ist, die dies aufgrund ihrer eigenen, spezifischen Zwecke tun. Daher ist die Idee eines gemeinsamen, allen Beteiligten vereinenden Ziels illusorisch. Organisationen können zwar als Mittel zum Zweck verstanden werden, aber dann sind sie Mittel zu unterschiedlichen, oft konkurrierenden und manchmal sich sogar gegenseitig ausschließenden Zwecken.

Nehmen wir das Unternehmen als Beispiel. Es dient den Mitarbeitern als Mittel, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, vielleicht auch noch berufliche Befriedigung zu finden, „Spaß“ bei der Arbeit zu haben etc. (= „Motivation“). Den Eigentümern, sei es nun eine Einzelperson, eine Familie oder eine Gruppe von Aktionären, ist es Mittel zum Erzielen einer Rendite, aber auch hier kann seine Bedeutung weiter reichen, es kann z.B. (vor allem bei Gründern und deren Familien) zur persönlichen Identitätsbildung beitragen usw. Den Kunden ist es als Produzent von Waren und Dienstleistungen Mittel zur Entwicklung von Konsumfantasien und –bedürfnissen sowie ihrer eventuellen Befriedigung, dem Staat ein Mittel Steuern einzunehmen usw. Die Liste ließe sich noch verlängern. Es geht also um sehr verschiedene Zweckrationalitäten oder, wenn von einzelnen Akteuren und ihren Entscheidungen die Rede ist: um sehr verschiedene Motivationen individuellen Handelns.

Die Berufung auf eine, nicht näher spezifizierte, absolut gesetzte Rationalität kann daher als „ein auf Entscheidungen bezogenes Äquivalent für das, was man in der Erkenntnistheorie ‚Objektivität‘ nennen würde „ (Luhmann 2000) betrachtet werden. Es geht um einen Wahrheitsanspruch und die damit verbundene Legitimation von Entscheidungen. Solch eine Argumentation, die vor allem in der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte immer wieder zu vernehmen ist, kann als „rhetorische Leistung“ identifiziert werden, „mit der man bestimmten Positionen den Anschein des Unbestreitbaren zu geben versucht“ (Luhmann 2000). Dies ist ein politisches Manöver, dessen paradoxes Ziel ist, Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Entscheidungen zu verhindern“ (Simon 2013).

Ein Beispiel dafür gipfelt in dem Unwort des Jahres 2010: „Alternativlos“. Zur Begründung heißt es: Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe (vgl. http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=35).

„Um das Rationalitätskonzept für die Organisationstheorie zu retten, hat Herbert A. Simon, 1957, schon sehr früh vorgeschlagen, von „begrenzter Rationalität“ („bounded rationality“) zu sprechen. Ergebnis seiner empirischen Untersuchungen ist, dass in den Entscheidungsprozessen von Organisationen nicht die „beste“ Lösung gewählt wird, sondern eine, die hinreichend „zufriedenstellend“ ist („satisficing“).

Im Verlauf eines Prozesses werden die Konsequenzen von Handlungen bzw. ihrer Alternativen deutlich. Entscheidungen werden notwendig und getroffen. So wird ein Repertoire zufriedenstellender Programme entwickelt, das es ermöglicht, in ähnlichen Situationen erneut zu handeln bzw. unter alternativen Programmen zu wählen. Diese Programme funktionieren unabhängig voneinander (vgl. March u. Simon 1958)

Eine sich so entwickelnde Rationalität muss (aus der Außenperspektive gesehen) nicht optimal sein, sondern nur gut genug (befriedigend). Dann kann man so erst einmal weitermachen. Dass im Nachhinein logisch klingende Begründungen, für die aus dem Moment heraus getroffenen Entscheidungen geliefert werden, hat wenig mit den tatsächlichen Motiven zu tun. Sie sind in ihrer Komplexität in der Regel weder in der aktuellen Situation durchschaubar noch in der Erinnerung rekonstruierbar. Dennoch werden nachträglich solche sinnstiftenden Erklärungen konstruiert („sense-making“, Weick 1995), wodurch der Mythos der Rationalität kontrafaktisch aufrechterhalten wird.

Systemrationalität: System und Umwelt

Für Organisationen als autopoietische Systeme kann der Rationalitätsbegriff ganz generell nicht primär im Sinne der Zweckrationalität gebraucht werden. Das Beispiel des Unternehmens und der widersprüchlichen Ziele unterschiedlicher Interessensgruppen sollte verdeutlichen, dass jede einzelne Organisation als gemeinsames Mittel zu höchst unterschiedlichen Zwecken fungieren kann. Nicht das gemeinsame Ziel der unterschiedlichen Interessensgruppen ist es, was ihr Überleben sichert, sondern die Tatsache, dass die Organisation in der Lage ist, als gemeinsames Mittel für unterschiedliche Ziele zu dienen. Der den einzelnen, inhaltlich-sachlichen Zielen übergeordnete „Zweck“, der die internen Prozesse der Organisation steuert und die unterschiedlichen Akteure integriert, ist die Fortsetzung der Autopoiese der Organisation. Wobei hier die Verwendung des Zweckbegriffs problematisch ist (und er deswegen in Anführungszeichen gesetzt ist), denn es handelt sich hier nicht um die bewusste Zwecksetzung irgendeines Subjekts, sondern die autopoietischen Organisationsform der Prozesse führt dazu, dass die Organisation sich so verhält, „als ob“ sie diesem Zweck verfolgen würde.

Ihre Eigenlogik ist auf die Aufrechterhaltung der System-Umwelt-Unterscheidung gerichtet, d.h. die Weiterexistenz in der Beziehung zu und in der Kommunikation mit spezifischen, für das eigene Überleben unverzichtbaren Umwelten. Auch dies ist eine Form der Rationalität. Sie lässt sich im Unterschied zur Zweckrationalität als „Systemrationalität“ bezeichnen (Luhmann 2000).

Es geht dabei nicht um den einen besten Weg, ein Ziel zu erreichen (den es nicht gibt), sondern darum, in der Auseinandersetzung mit relevanten Umwelten – sei es die Wirtschaft oder ein anderes gesellschaftliches Subsystem, seien es andere Organisationen oder die Mitarbeiter etc. – gangbare Handlungsweisen zu finden, die mit dem Überleben vereinbar sind („viabel“ = brauchbar).

Daher stellt sich bei der Beobachtung jeder Organisation die Frage nach für ihr Überleben relevanten Umwelten (und das können sehr verschiedene sein). Überleben wird dabei zum Rationalitätskriterium des Handelns. Erst beide zusammen – Organisation und relevante Umwelten – bilden eine Überlebenseinheit und durchlaufen einen gemeinsamen Entwicklungsprozess („evolutionäre Einheit“). Erst wenn das Überleben gesichert ist, stellt sich die Frage nach darüber hinausgehenden, sachlichen Zielen und der Zweckrationalität des Handelns.

Zur Illustration: Auch ein menschliches Individuum kann sich irgendwelche sachlichen Ziele („ein Eigenheim erwerben, Klavierspielen lernen, den Mount Everest besteigen) setzen. Aber es kann seine dazu nötigen Fähigkeiten und Kompetenzen nur realisieren, wenn es am Leben bleibt. Tote spielen kein Klavier, steigen auf keine Berge, und um ihr Eigenheim streiten sich die Erben. Das schlichte Überleben als Voraussetzung für alle anderen Aktivitäten gerät meist aus dem Blickfeld, weil es als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Das ist es aber nicht, auch, wenn es oft so scheint.

Soweit Organisationen bezahlte Mitarbeiter beschäftigen (und das gilt nahezu für alle), müssen sie sich immer auch auf das Wirtschaftssystem als relevante Umwelt einstellen. Denn sie brauchen Geld (Einnahmen), um ihre Mitglieder bezahlen zu können. Ohne sie findet keine Kommunikation – und damit auch keine Organisation – statt. Woher dieses Geld stammt, ob es, wie beim Unternehmen, durch die Herstellung und den Verkauf von Waren und Dienstleistungen erwirtschaftet wird oder, wie bei einer staatlichen Behörde, aus Steuereinnahmen bezahlt wird, aus Spenden, wie bei einer Nichtregierungsorganisation oder einem gemeinnützigen Verein, spielt keine Rolle.

Allerdings macht es für das Überleben und die dazu nötigen Strategien einer konkreten Organisation einen großen Unterschied, ob sie die lebensnotwendigen Zahlungen aufgrund von Budgetplanungen oder politischen Entscheidungen erhält, aufgrund ihres Markterfolges oder durch Spenden. Einmal bedarf es politischer Lobbyarbeit, das andere Mal des Marketings, oder des sachgerechten Gebrauchs des Klingelbeutels usw.

Die Zahlungen sind notwendig für das wirtschaftliche Überleben der Organisation, für die Fortsetzung der, sie definierenden Kommunikation. Das Ausbleiben der für die Weiterexistenz notwendigen Zahlungen ist fast immer der letzte Grund, warum Organisationen „sterben“. Aber oft ist dies nur die mittelbare Folge davon, dass sie den Anforderungen anderer, überlebenswichtiger Systeme nicht gerecht geworden sind. Eine Schule, in die keine Kinder mehr kommen, wird dicht gemacht, auch wenn genug Geld vorhanden ist. Wissenschaftliche Einrichtungen, die keine Forschungsergebnisse produzieren, werden zur Disposition gestellt. Behörden, die sich als korrupt erweisen, kommen unter politischen Druck usw. Wenn die Mitarbeiter der Organisation über keine Motivation mehr verfügen, die Organisationen am Leben zu erhalten, dann stirbt sie.

Da Organisationen nicht unabhängig von ihren verschiedenen Umwelten und deren Anforderungen operieren können, sind sie ständig irgendwelchen Irritationen (Störungen, Anregungen) ausgesetzt, auf die sie intern reagieren müssen. Ob sie langfristig überleben, hängt davon ab, wie diese wechselseitigen Anpassungs- und Aushandlungsprozesse zwischen der Organisation und ihren Umwelten (=Lernen) verlaufen.

Um zu überleben, braucht sie Ziele: Zweckrationalität ist für sie ein Mittel der Systemrationalität. Denn es sind die funktionell gegeneinander abgegrenzten gesellschaftlichen Subsysteme, als deren Akteure Organisationen ihre Funktionalität beziehen. Ihren Bedingungen gerecht zu werden, bestimmt, ob langfristiges Überleben gelingt oder nicht“ (Simon 2013).

 

Simon, F., B., (2013) Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 4. Aufl.
Weick, K., (1979): Der Prozess des Organisierens. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1985.
Luhmann, N., (2000): Organisation und Entscheidung. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Simon, H., A., (1957): Administrative behavior. New York (Free Press), 4. Aufl. 1997. March, J., G., Simon, H., A., (1958): Organizations. Cambridge, MA (Brasil Blackwell), 2nd ed., 1993.

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Jens Donig

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Jens Donig ist systemischer Coach (dvct) und Principal Consultant für Software- und Systems- Engineering. Die Schwerpunkte seiner Coaching- und Beratungstätigkeit liegen in den Bereichen Organisationsentwicklung, Teamentwicklung und der persönlichen Entwicklung seiner Kunden. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mich intensiv mit der nachhaltigen Verankerung von Veränderungsprozessen in Organisationen verschiedener Branchen. Auf Basis des systemischen Coachings, von Transformationsprozessen und agiler Werte und Prinzipien, begleitet er seine Kunden erfolgreich auf ihrem persönlichen Weg der Weiterentwicklung und Veränderung.